Gemeinsam Lernen lernen

Die Gemeinschaftsschule soll nicht vereinheitlichen oder gleichmachen – im Gegenteil – sie soll die Individualität berücksichtigen.

39. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 16. Wahlperiode zur Großen Anfrage »Eine Schule für alle oder für alle eine Schule?«

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wollte nur nicht den Eindruck erwecken, als wollte ich mich vor Herrn Mutlu vordrängeln. Ich habe schon einmal angemerkt, wie es mit den geistigen Einschaltquoten bei bildungspolitischen Themen in diesem Haus ist. Ich habe den Eindruck, dass solche großen Anfragen nicht wirklich dazu beitragen. Für den aufmerksamen Zuhörer gibt es aber in der Tat die eine oder andere Neuigkeit, die zu vermelden ist. Die CDU hat eine Kommission, die einen Strukturvorschlag entwickelt – immerhin.

Auch bei den Grünen war es interessant zuzuordnen. Man kann an dem Hamburger Kompromiss zwischen Grünen und CDU viel kritisieren. Zumindest ist es doch aber augenscheinlich ein schmerzhaft errungener Kompromiss für die Hamburger Grünen. Ich finde es schon spannend, dass Sie hier in der Situation, in der Sie sich nur mit sich selbst einigen müssen, in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, als sei es grüne Politik pur, was Sie in Hamburg machen.

Nein, das ist nicht unsere Position. Wir finden im Unterschied zur CDU – es war ein bisschen unklar, wie ernst die Große Anfrage tatsächlich gemeint war –, dass eine öffentliche Debatte über Ziele, Inhalte und Struktur der Berliner Schule dringend notwendig ist und dass sie nicht nur ein unnötiges Irritieren und eine unnötige Verunsicherung von Schülern, Eltern und Lehrern darstellt, wie es hier unterstellt wird.

Denn angesichts der Befunde, die uns über die Ergebnisse unseres Bildungssystems immer wieder ins Stammbuch geschrieben werden, wäre es geradezu ein unverantwortliches Experiment an den Kindern, eine grundlegende Reform des Bildungssystems nicht in Angriff zu nehmen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Ebenso unverantwortlich wäre es, eine solche Reform ohne öffentliche Debatte in Angriff nehmen zu wollen. Es ist Ihre Entscheidung, aber meiner Ansicht nach reicht es nicht aus, wenn man – wie die CDU es tut – danach sucht, inwieweit es in Detailfragen unterschiedliche Auffassungen in den Koalitionsfraktionen gibt. Klar gibt es sie bei einer solchen grundlegenden Frage. Es wäre ein Wunder, wenn es sie nicht gäbe. Entscheidend ist, worauf wir uns einigen, aber entscheidend ist auch, wie offen wir solch eine Debatte führen. Sie ist dringend notwendig.

Ich stelle von vornherein Folgendes klar: Unser Ziel bleibt ein ungegliedertes Schulsystem, in dem Kinder und Jugendliche nicht nach vermeintlicher Eignung auf verschiedene Schultypen verteilt werden.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Es ist wichtig, dass wir nicht auf Legenden hereinfallen. Eine solche Schule ist gerade keine Schule der Gleichmacherei, sondern setzt voraus, dass Unterschiedlichkeiten akzeptiert werden, dass individuelles Lernen in den Mittelpunkt gestellt wird. Eine solche Schule – sage ich jetzt einmal polemisch – bedeutet eine Verabschiedung von den verschiedenen Einheitsschulen, die wir in unserem Schulsystem haben, in denen Kinder – gemessen an demselben durchschnittlichen Maßstab – im Gleichschritt in derselben Zeit zu denselben Ergebnissen gebracht werden sollen.

[Beifall von Dr. Felicitas Tesch (SPD) –
Özcan Mutlu (Grüne) meldet sich zu einer Zwischenfrage]

Es geht um individuelles Lernen. Es geht darum, Heterogenität als Verschiedenheit, als Chance zu begreifen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vizepräsident Dr. Uwe Lehmann-Brauns:

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Mutlu?

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Bitte!

Özcan Mutlu (Grüne):

Herr Zillich! Der Vorschlag von Bildungssenator Zöllner geht erkennbar einen anderen Weg. Und Ihre Fraktionsvorsitzende hat kürzlich auch in einer Zeitung gesagt, man könne das Gymnasium nicht einfach abschaffen. Was gilt nun? Sind Sie gegen das Modell von Herrn Zöller? Wollen Sie die Gymnasien abschaffen oder nicht? Ich sehe einen Widerspruch zwischen dem, was Sie gerade gesagt haben, und dem, was ich sonst höre.

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Ich komme noch dazu. Ich bin noch nicht am Ende mit meiner Rede. Es ist nicht sinnvoll, am Anfang einer Rede eine Zwischenfrage zu stellen, die ungefähr bedeutet: »Was willst du denn sagen?«

[Beifall bei der Linksfraktion –
Zuruf von Özcan Mutlu (Grüne)]

Um zu solch einem Schulsystem zu kommen, haben wir uns in der Koalition auf ein ganz wichtiges Element verständigt: auf die Pilotphase Gemeinschaftsschule. Diese Pilotphase Gemeinschaftsschule ist für uns ganz wichtig. Sie zeigt nämlich, dass eine solche Schule, die auf Auslese verzichtet, nicht nur an Akzeptanz gewinnt, sondern auch auf Interesse stößt. Hier ist das Pankower Beispiel der neu gegründeten Gemeinschaftsschule zu nennen. Sie existiert noch nicht einmal 100 Tage, und es gibt für das nächste Schuljahr für 80 Plätze bereits über 200 An­meldungen.

[Zuruf von Ramona Pop (Grüne)]

Wir werden diese Pilotphase weiterführen. Wir werden sie stärken, weil es hier darum geht, ein Modell dafür zu haben, wie eine nicht auslesende Schule funktionieren kann.

Aber wir beschränken uns nicht darauf, sondern wir gehen weiter. Uns geht es darum, dass auch in den Schulen, die nicht an der Pilotphase Gemeinschaftsschule teilnehmen, Weiterentwicklung notwendig ist. Darum geht es in der aktuellen Debatte.

Was ist uns in diesem Prozess wichtig? – Zunächst sind uns die Ziele, die damit verbunden sind, wichtig. Ich nenne sie noch einmal, obwohl manche sie als Beiwerk sehen; ich finde das auch für unsere Kommunikation im Parlament wichtig: Uns geht es darum, dass alle einen Abschluss erreichen. Uns geht es darum, dass wir viel mehr Abiturienten und Abiturientinnen brauchen. Uns geht es darum, dass wir den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Bildungschance und Bildungserfolg auflösen müssen. Da muss die CDU sagen, was sie will. –Das Einzige, was Sie in der vergangenen Runde zu dem Thema »Wir brauchen mehr Abiturienten« gesagt haben, war: »Wir dürfen die Abschlüsse nicht entwerten.« Selbstverständlich dürfen wir die Abschlüsse nicht entwerten, aber Sie müssen eine Position dazu beziehen, ob Sie gemeinsam mit der OECD, gemeinsam mit dem Wissenschaftsrat, gemeinsam mit der Wirtschaft der Auffassung sind, dass wir zu mehr Menschen mit einer Hochschulzugangsberechtigung kommen müssen. Wenn Sie nicht der Auffassung sind, dann sagen Sie es, dann haben wir einen ziemlich großen inhaltlichen Dissens.

In dieser Frage geht es uns um die Überwindung der Hauptschule. Das ist der Ausgangspunkt. Hier müssen wir schnell handeln. Hier müssen wir schnell eine Situation überwinden, in der trotz großen materiellen Einsatzes und trotz großen Engagements nicht genügend Erfolge gezeitigt werden.

Ein ganz wichtiger Punkt in diesem Prozess ist, dass wir keine neuen Restschulen schaffen, und das in zweierlei Hinsicht: Erstens dürfen wir die Sonderschulen, die Schulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt Lernen, bei dieser Reform nicht außen vor lassen. Wir müssen ihre Überwindung mitdenken, damit an dieser Stelle nicht eine neue Restschule entsteht. Und wir müssen dafür sorgen, dass auch die andere Schule, die in einem Zwischenschritt neben dem Gymnasium existiert, nicht in die Gefahr kommt, eine neue Restschule zu werden.

Das bedeutet, dass wir uns nicht auf die Zusammenlegung von Schulformen beschränken können, sondern dass wir beschreiben müssen, wie sie integrativ arbeiten. Es gibt die Voraussetzung dafür, dass keine Schule auf Kosten der anderen existieren darf, deswegen darf es kein Abschulen geben. Und es geht darum, eine Gleichwertigkeit zu erzielen bei den Abschlüssen, die ermöglicht werden können, bei den Standards, die angeboten werden können, und auch bei den Ausgangsbedingungen der Schulen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD –
Beifall von Özcan Mutlu (Grüne)]

Da kommen wir an einen sehr schwierigen Punkt. Weil wir wissen, dass immer, wenn wir solch ein aufgesplittetes Schulsystem haben, die Gefahr sozialer Ausdifferenzierung zwischen den Schülerinnen und Schülern besteht, müssen wir das, was wir im Zwischenschritt tun, daran messen, inwieweit wir dazu beitragen, diese soziale Auslese zurückzudrängen, auch bei der Frage: Wer kommt auf welche Schule?

Wir sagen klar, wohin wir wollen. Wegen der Frage von Herrn Steuer – vielleicht war sie gar nicht so wichtig, deswegen wurde sie gar nicht mehr aufgegriffen –, ob man eine Schule für alle oder was auch immer wolle, will ich unsere Ziele noch einmal verdeutlichen: Ja, wir wollen eine Schule für alle, weil es beim Lernen auf jeden einzelnen ankommt. Wir wollen eine Schule für alle, weil die Schule Individualität und Verschiedenheit nicht nur als gesellschaftliche Realität akzeptieren, sondern als Chance begreifen muss.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir wollen eine Schule für alle, damit nicht länger der Chimäre homogener Lerngruppen durch Auslese nachgejagt wird. Und wir wollen eine Schule für alle – hier zitiere ich Lothar Sack von der »Frankfurter Rundschau« –, weil man »gemeinsam leben (...) nur gemeinsam lernen« kann. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

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