Wer A sagt, kann B vielleicht nicht lesen

Steffen Zillich

130 000 Berlinerinnen und Berliner sind Analphabeten. Prävention und eine nachträgliche Alphabetisierung im Jugendlichen- und Erwachsenenalter muss Priorität haben.

35. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 16. Wahlperiode zur Großen Anfrage »Analphabetismus in Berlin«

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ideologische Scheuklappen abzulegen ist immer gut. Ob aber eine am späten Abend stattfindende Rederunde über eine Große Anfrage hier im Plenum dazu beiträgt, weiß ich nicht. Es ist ein wichtiges Thema, aber es ist ein Thema, das man notwendigerweise kleinteilig diskutieren muss und wo man notwendigerweise in die Details gehen muss. Insofern wäre eine Ausschussberatung sicherlich richtig gewesen. Vielleicht hätte man den Antrag der Grünen und die Große Anfrage der CDU-Fraktion zusammenlegen sollen, um insgesamt darüber zu diskutieren, denn ich bin gespannt auf die Befunde der Grünen.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass das Thema Analphabetismus in den Medien präsent war. Am 8. September war Weltalphabetisierungstag der UNESCO. Solche Gedenktage sind wichtig, weil sie geeignet sind, den Fokus auf Dinge zu lenken, die nicht ständig im Licht der Öffentlichkeit stehen. Aber unabhängig von solchen Gedenktagen darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Analphabetismus ein Alltagsproblem ist. Die Zahlen sind genannt worden. Man kann sagen, dass für mindestens 130 000 Analphabeten in Berlin die Beteiligungsmöglichkeiten am Leben in der Stadt eingeschränkt sind.

Wenn wir in Berlin und in Deutschland über Analphabetismus reden, geht es weniger um die, die nie die Chance hatten, Lesen oder Schreiben zu lernen. Der Analphabetismus ist weltweit nach wie vor ein großes Problem, aber hier bei uns sind vor allem diejenigen betroffen, die die Schule durchlaufen haben, ohne Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Dieser sekundäre oder funktionale Analphabetismus ist deshalb ein Problem, an dessen Behebung beständig in unterschiedlichen Lebensphasen gearbeitet werden muss. Man kann nicht sagen, wir legen einen Kurs auf, und dann ist es vorbei, sondern es geht um die vorschulische Sprachförderung, wo erste Voraussetzungen geschaffen werden, sowie um die Grundschule und insbesondere um die Schulanfangsphase, aber auch darum, Schritte für diejenigen einzuleiten, bei denen eine nachfolgende Alphabetisierung stattfinden kann, weil es in der Schule nicht geklappt hat.

Mit der schriftlichen Beantwortung der Großen Anfrage liegen Fakten, Begriffsbestimmungen und die Beschreibung von Maßnahmen vor. Es bleibt Folgendes festzuhalten: Erstens ist der Kreis derjenigen, die betroffen sind, relativ groß. Einige sagen 130 000, andere sagen 165 000, und jetzt sind sogar noch höhere Zahlen genannt worden. Der sekundäre oder funktionale Analphabetismus, der uns besonders betrifft, ist kein statisches Problem, sondern ein Problem, das mit wachsenden gesellschaftlichen Bildungsansprüchen – z. B. mit der Notwendigkeit, über PC-Kenntnisse zu verfügen – auch in ständig neuer Form von Bildungsdefiziten auftritt.

Wir wissen nicht, wie hoch die Zahl der Analphabeten tatsächlich ist. Es gibt keine genauen Untersuchungen. Zu berücksichtigen ist auch, dass viele der Betroffenen verständlicherweise nicht auffallen wollen und entsprechende Strategien entwickeln, um ihr Nichtlesen- und Nichtschreibenkönnen zu verdecken. Zudem ist es wichtig, festzustellen, dass Analphabetismus überwiegend kein Problem mangelnder Intelligenz ist, sondern in hohem Maße den Lebensumständen – der sozialen Lage, der familiären Situation und vielem anderen mehr – geschuldet ist. Analphabetismus hat Ursachen, und die sind bekämpfbar.

Es geht um zwei grundlegende Strategien, die bei der Bekämpfung wichtig sind, nämlich einerseits um die Verhinderung, also Prävention von Analphabetismus, andererseits um Maßnahmen zur nachträglichen Alphabetisierung im Jugendlichen- und Erwachsenenalter. In erster Linie gefordert ist die Grundschule bzw. die Schuleingangsphase – basierend auf einer verbesserten vorschulischen Sprachförderung. Das ist eine Aufgabe, die insgesamt von der Schule gelöst werden muss. Es geht darum, dass man sich verstärkt auf jedes einzelne Kind und sein individuelles Lernen konzentriert. Die Bildungsrückstände im Lesen und Schreiben müssen frühzeitig erkannt werden, damit man rechtzeitig individuelle Fördermaßnahmen ergreifen kann.

[Mieke Senftleben (FDP): Dass das nicht passiert, ist die Schande!]

Damit ist eine Richtung oder eine Entwicklung für die Schule genannt, zu der wir insgesamt kommen müssen.

[Özcan Mutlu (Grüne) meldet sich zu einer Zwischenfrage.]

Wenn man sich die PISA- und IGLU-Ergebnisse anschaut, so ist es nicht nur erschreckend, dass ein großer Anteil der Fünfzehnjährigen über sehr mangelhafte Kenntnisse verfügt.

Vizepräsidentin Karin Seidel-Kalmutzki:

Herr Zillich! Eigentlich ist Ihre Redezeit sowieso gleich um, aber Herr Mutlu würde gern noch eine Zwischenfrage stellen.

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Wenn die Zeit um ist, gestatte ich auch keine Zwischenfrage. Ich möchte den Gedanken noch zu Ende führen. –  Das Erschreckende ist vor allem, dass sich die Situation derjenigen, die über mangelnde Kenntnisse beim Lesen und Schreiben verfügen, in der Zeit seit der Grundschule – seit dem IGLU-Test – nicht verbessert hat. Die Schule fördert also genau in diesem Zeitraum in dieser Form nicht. Das hat etwas mit Selektion zu tun, hat aber auch etwas mit dem Grundverständnis der Schule zu tun.

Vizepräsidentin Karin Seidel-Kalmutzki:

Herr Zillich, Sie müssten jetzt zum Schluss kommen!

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Ich komme zum letzten Satz: Analphabetismus ist ein wichtiges Thema. Wir sollten es weiterhin beachten, und zwar nicht nur anlässlich von Gedenktagen. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion –
Vereinzelter Beifall bei der SPD –
Özcan Mutlu (Grüne): Dann fangen Sie an, etwas zu tun, statt nur zu reden!]

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