Bildung muss von der Herkunft unabhängig sein

In der neuen PISA-Studie zeigen die Berliner Schülerinnen und Schüler kleine Verbesserungen in der Lesekompetenz und in Mathematik. Der Bezug von Herkunft und Bildung ist aber noch nicht durchbrochen.

38. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 16. Wahlperiode in der Aktuellen Stunde zu »Unterschiedliche PISA-Werte, eine chaotische Strukturdebatte und Tricksereien bei der Lehrerausstattung – der Senat ist mit der Bildungspolitik völlig überfordert!«, zur Beschlussempfehlungen »Bessere Bildung: eigenverantwortliche Schule, Schulleitungen auch in der Praxis stärken!« und »Exzellente Bildung für Berlin (VIII) – eigenständige Schulen stärken, Bürokratie abbauen!«

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Weil diese Debatte maßgeblich von den Kategorien Schwarzer Peter und Schuld beherrscht wird und weniger von den Kategorien Probleme und Lösung, kann ich dem auch nicht widerstehen und verweise deshalb darauf, dass zur Stunde in Hamburg gegen die grüne Bildungspolitik unter dem Motto »Fünf vor Zwölf« demonstriert wird.

[Zurufe von den Grünen]

Ein Punkt, Herr Steuer, ist natürlich auch wichtig: Wenn die Kanzlerin – mit der richtigen Idee Bildungsrepublik Deutschland – zu einem Bildungsgipfel lädt und dieser an der zentralen Aufgabe grandios scheitert, nämlich tatsächlich gemeinsame Anstrengungen von Bund und Ländern zu verabreden, wie wir den Nachholbedarf, den wir in der Bundesrepublik unbestreitbar haben, und der weder vom Bund noch den Ländern allein gemeistert werden kann, dann ist dies eine schlechte Voraussetzung dafür, dass in den Ländern vorangegangen werden kann.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wir reden über PISA. Um es vorweg zu sagen: Die Ergebnisse von PISA-E sind in der Tat kein Grund für Zufriedenheit und Freude, für Übermut schon gar nicht.

[Özcan Mutlu (Grüne): Endlich sagt mal einer die Wahrheit!]

Aber um den Blick nicht zu verstellen, ist es notwendig, sie kurz einzuordnen und ohne allzu große Emotionen festzustellen, dass keine wesentlich neuen Ergebnisse durch PISA-E 2008 geliefert worden sind.

[Mieke Senftleben (FDP): Doch!]

Es gibt einen leichten Trend zur Verbesserung in Berlin, es gibt sowohl bei den Platzierungen in Lesekompetenz und Mathematik leichte Verbesserungen und Verbesserungen bei den Testergebnissen. Diese liegen sogar über dem Durchschnitt der Verbesserungen der anderen Bundesländer. Auch die Entwicklung in den führenden Bundesländern Bayern, Sachsen und Thüringen sind durchaus ambivalent. Wir müssen uns jedoch nicht über Details und Prozentpunkte streiten, festzuhalten bleibt: Neben der Qualität der schulischen Ergebnisse ist die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft weiter ein riesiges Problem.

[Mieke Senftleben (FDP): Richtig!]

Das gilt für Berlin, aber das gilt auch für Bayern und Sachsen.

[Mieke Senftleben (FDP): Nein!]

Der Blick auf Bayern zeigt, dass dort das Festhalten am gegliederten System nicht nur die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der Herkunft festigt, sondern auch keine Leistungssteigerung hervorbringt, sondern diese eher blockiert.

Die PISA-Befunde zeigen nach wie vor, dass wir keinen Grund zur Zufriedenheit haben. Wir haben grundlegenden Reformbedarf in der Schule.

[Mieke Senftleben (FDP): Haben wir schon seit Jahren, keine neue Erkenntnis!]

Wir hätten ihn nicht, wenn wir Superergebnisse hätten. Dies nicht anzuerkennen, sich mit dem Status quo zufrieden zu geben, wäre ein unverantwortliches Experiment an den Schülerinnen und Schülern. Genau deshalb führen wir eine Reformdebatte. Allerdings greift eine auf Strukturen beschränkte Debatte – manchmal habe ich den Eindruck, es sei eine solche – zu kurz. Wir brauchen eine Verständigung darüber, wohin wir mit der Berliner Schule wollen. Wir müssen uns über Ziele verständigen und davon abgeleitet über den Weg, der zu diesen Zielen führen soll.

Wir schlagen drei Ziele vor.

[Özcan Mutlu (Grüne): Taten, keine Ziele!]

Es wäre schön, wenn Sie die Debatte darüber mit uns begönnen:

[Mieke Senftleben (FDP): Jetzt schon?]

1.   Alle Schülerinnen und Schüler bekommen einen Abschluss.

2.   Wir wollen, dass zwei Drittel eines Jahrgangs das Abitur erreichen. Wir wissen, dass wir weit hinter dem OECD-Durchschnitt liegen. Nimmt man die demografische Entwicklung dazu, werden wir ein riesiges Problem hinsichtlich der Fachkräfte bekommen.

3.   Wir müssen vor allem den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg überwinden.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Mich interessiert, ob Sie diese Zielsetzung teilen oder ob Sie andere Ziele vorschlagen. Wenn Sie sie für falsch halten, könnten wir uns darüber austauschen.

Vizepräsidentin Karin Seidel-Kalmutzki:

Entschuldigung, Herr Abgeordneter Zillich! Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Senftleben?

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Nein!

[Martina Michels (Linksfraktion): Ist eh immer nur das Gleiche!]

Zielloses Genörgel, wie es hier stattfindet, und das Infragestellen der Notwendigkeit grundlegender Debatten, nützen in der Tat nichts. Wenn wir Schule und Schulpolitik an diesen Zielen messen, dann stellen wir fest – wir haben die Notwendigkeit, die Abiturquote maßgeblich zu erhöhen – dass in den Gymnasien, also der Schulform, deren Aufgabe es ist, die Kinder zum Abitur zu führen, 20 bis 25 Prozent der Kinder das Abitur nicht schaffen,

[Mieke Senftleben (FDP): Stimmt doch überhaupt nicht!]

dann sehen wir, dass uns dies nicht weiterbringt, sondern dass sich das Gymnasium verändern muss.

Wir müssen uns aber vor allen Dingen fragen, wie eine Schule aussehen muss, um diese Ziele erreichen zu können. Solch eine Schule muss vor allen Dingen die Schülerin, den Schüler in den Mittelpunkt stellen, sie darf niemanden zurücklassen und darf Wissbegierigkeit nicht mit Sätzen wie »Das gehört nicht hierher« oder »Da sind wir noch nicht« zurückweisen. Damit Schule so sein kann, muss eine Voraussetzung erfüllt sein: Schule darf nicht auslesen. Sie darf Schülerinnen und Schüler nicht mit der Frage konfrontieren: Gehörst Du eigentlich hierher? – Wir brauchen eine nicht auslesende Schule. Deshalb brauchen wir eine Gemeinschaftsschule für alle.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Das ist kein ideologisches Prinzip. Vielmehr geht es darum, mehr Qualität und mehr Gerechtigkeit bei der Bildung zu erreichen. Wir wissen, dass der Weg dorthin aus vielen Schritten besteht. Deshalb brauchen wir den Ausbau der Pilotphase der Gemeinschaftsschule. Ich bin mir sicher, dass diejenigen Schulen, die sich auf den Weg machen und nicht auslesen, uns zeigen werden, dass dies erfolgreich sein kann. Der öffentliche Eindruck, die Gemeinschaftsschule werde nicht mehr von allen in der Koalition als Ziel angesehen, führt dazu, dass sich nicht mehr Schulen dafür bewerben. Deshalb brauchen wir die Pilotphase. Sie wird zeigen, wohin wir mit der Schule insgesamt wollen.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Beifall von Michael Müller (SPD) und Dr. Felicitas Tesch (SPD) –
Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Aber allein diese Pilotphase reicht nicht aus. Wir müssen Bedingungen schaffen, um Schule in allen Schulformen in die erforderliche Richtung zu verändern. Damit sich keine neue Restschule entwickelt, brauchen wir die Gleichwertigkeit der Schulen bei den Standards, den Abschlüssen und der Zusammensetzung der Schülerschaft. Eine Voraussetzung dafür ist, dass keine Schule auf Kosten der anderen leben darf. Eine Voraussetzung dafür ist, dass in den Schulen integrativ gearbeitet wird. Wir müssen das Sitzenbleiben überwinden und das zwangsweise Einteilen in vermeintlich leistungshomogene Gruppen.

[Dr. Martin Lindner (FDP): Jeder Schafskopf bekommt ein Abitur und damit hat es sich dann!]

Wir müssen die Hauptschule überwinden, das ist völlig richtig. Für uns reicht dies allein nicht aus. Die entscheidende Frage in diesem Prozess ist für uns, inwieweit eine schrittweise Reform des Bildungssystems dazu beiträgt, die soziale Selektion im Bildungssystem zu überwinden. Das ist unser entscheidendes Kriterium. Deswegen brauchen wir eine stärkere Ausstattung der Schulen, nicht so sehr hinsichtlich der Schulform, sondern hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler. Es sind unterschiedliche Anforderungen, in Zehlendorf zu bestimmten Ergebnissen zu kommen oder in Nord-Neukölln.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Zuruf von Joachim Esser (Grüne)]

Wir müssen dieses Kriterium auch bei der Frage anwenden: Wer kommt auf welche Schule und inwiefern trägt dieser Prozess zur sozialen Selektion bei.

[Mieke Senftleben (FDP): Das muss vor allem die Politik entscheiden!]

Wir führen eine Debatte über die grundlegende Reform des Schulsystems. Uns ist klar, wohin wir wollen. Wir wollen hin zu einer nicht auslesenden Schule, wir wollen hin zu einer Schule für alle. Aber wir führen auch eine Debatte. Uns vorzuwerfen, es handele sich um eine solche mit unterschiedlichen Ansatzpunkten, halte ich für nicht zielführend. Ihre Versuche, diese notwendige grundlegende Reform und die Debatte darüber zu verhindern, sind nicht sehr klug. Wir müssen eine breite Debatte führen, aber auch sehr genau darauf achten, dass diese nicht dadurch belastet wird, dass der Eindruck entsteht, es gäbe bereits Vorfestlegungen oder Entscheidungen für den einen oder anderen Schritt.

Genau das führt zu Verdruss. Das führt zu Frustrationen, und das führt dazu, dass der Eindruck entsteht von »rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln«.

Es ist falsch, den Eindruck zu erwecken, es ginge hier um Parteiprogramme, es ginge nur darum, dass sich irgendjemand durchsetzt. Hier geht es vielmehr darum, ein grundlegendes Problem der Berliner Schule zu überwinden. Es geht um die Frage, ob die soziale Herkunft von Kindern darüber bestimmt, welche Chancen ein Kind im Leben hat. Da können wir uns mit dem, was Hamburg sich vorgenommen hat, nicht zufrieden geben, denn genau diese Frage wird dort nicht gelöst. Wir müssen in Berlin weitergehen. – Danke schön!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD –
Özcan Mutlu (Grüne): Dann fangen Sie mal an!]

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