Gerechtigkeit in der Bildungsbeteiligung

Befunde der Ländervergleichsstudie zum Teil erfreulich und zum Teil überhaupt nicht erfreulich

16. Wahlperiode 68. Sitzung: Steffen Zillich zur Aktuelle Stunde Chancengleichheit und Durchlässigkeit im Bildungssystem – auf Antrag der SPD und der Linksfraktion


Frau Präsidentin! Sehr gehrte Damen und Herren! Lieber Herr Statzkowski!

Da war es ehrlich, dass Sie Ihre Ideologie ausdrücklich nicht aus der Debatte ausklammern wollten!

Die Befunde der Ländervergleichsstudie zu den Sprachkompetenzen sind für Berlin zum Teil erfreulich und zum Teil überhaupt nicht erfreulich. Sie geben insgesamt sicherlich keinen Anlass zum Jubeln. Wir müssen sie sehr ernst nehmen, auch wenn sie kaum überraschen und neue Erkenntnisse liefern. Wir müssen sie richtig einordnen, um die richtigen Schlussfolgerungen ziehen zu können. Deswegen drei Vorbemerkungen!

Vizepräsidentin Karin Seidel-Kalmutzki: Entschuldigung, Herr Abgeordneter Zillich! Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Senftleben?

Steffen Zillich: Sie hat bestimmt schon gedrückt, bevor ich angefangen habe. – Bitte schön!

Mieke Senftleben (FDP): Das ist ein Irrtum. Allerdings bin ich sehr schnell wach geworden, nachdem Sie sagten, es gebe Erfreuliches aus der Studie aus dem Bildungsvergleich zu berichten. Nennen Sie mir bitte die erfreulichen Ergebnisse aus dieser KMK-Studie. Darauf warte ich jetzt.

Steffen Zillich: Sehen Sie, verehrte Frau Senftleben, genau das ist Problem einer solch frühen Zwischenfrage. Sie können gar nicht wissen, worauf in noch eingehen werde. Wenn ich etwas Erfreuliches zu vermelden habe, werde ich selbstverständlich noch darauf eingehen.

[Beifall bei der Linksfraktion –


Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Drei Vorbemerkungen möchte ich dann doch machen, um bei der Sache zu bleiben, weil man schon genau hinsehen muss. Diese Länderstudie soll Auskunft darüber geben, inwieweit Schülerinnen und Schüler bezogen auf den mittleren Schulabschluss Bildungsstandards erreichen oder verfehlen. Deswegen muss, wenn wir hier darüber reden, der Blick über die Relation von Durchschnittswerten zwischen Ländern hinaus gehen.

Wenn man das nicht tut und einfach nur sagt: Schlechtes Testergebnis, schlechte Regierung, kann ich verstehen, dass man als Opposition einen Mitnahmeeffekt erzielen will. Abgesehen jedoch von der Redlichkeit, zeigt das auch darüber hinaus, dass man sich ziemlich sicher, wenn man so argumentiert, dass man in nächster Zukunft niemals verantwortliche Bildungspolitik betreiben muss, wenn man dabei nicht in Rechnung stellt, dass die Situation in Stadtstaaten anders ist als in Flächenländern, dass andere Voraussetzungen vorliegen.

[Beifall bei der Linksfraktion –


Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Die zweite Vorbemerkung, die ich machen will, ist, dass die für die Länder erhobenen Daten in dieser Weise zum ersten Mal erhoben wurden. Sie lassen keinen Vergleich mit vorangegangenen Studien zu. Sie lassen auch keine Aussage über eine Entwicklung weder der getesteten Schüler noch der Leistungen der Jahrgangsstufe 9 selbst zu.

Die dritte Vorbemerkung: Es liegt in der Natur der Sache, auch wenn manche versuchen, es zu ignorieren, dass die im Ländervergleich aktuell getesteten Schüler in den Genuss von erst kürzlich stattgefundenen Reformen noch gar nicht kommen konnten.

Ein Aspekt ist für Berlin sehr erfreulich. Der Unterschied im Vergleich zum Bundesgebiet im Vergleich der Gerechtigkeit in der Bildungsbeteiligung. Hier betätigt die Studie die Ungerechtigkeit des Bildungssystems für das Bundesgebiet insgesamt, was die Abhängigkeit der Bildungschancen und der Chancen auf einen qualifizierten Abschluss vom Geldbeutel der Eltern betrifft. Wenn man sich die Chance ansieht, auf einen Bildungsgang mit Abiturperspektive zu bekommen, ergeben sich eklatante Ungerechtigkeiten. Bei gleichen Leistungen im Bund ergibt sich hier, dass ein Kind von höheren Angestellten mit akademischem Abschluss eine viereinhalbmal so große Chance wie ein Arbeiterkind. In Baden-Württemberg und Bayern ist das Verhältnis 6,6:1 bzw. 6,5:1. In Berlin liegt es bei 1,7:1.

[Beifall bei der Linksfraktion –


Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Dieser Unterschied ist deutlich. Dieser Unterschied ist und wichtig, weil uns Chancengleichheit wichtig ist. Das ist, wenn man sich Brandenburg ansieht, auch ein Erfolg der sechsjährigen Grundschule. Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich, wie fragwürdig die Auseinandersetzungen in Hamburg derzeit sind, aber wie wichtig die sechsjährige Grundschule für Berlin ist und wie wichtig es ist, dass wir sie stärken und nicht durch weitere grundständige Gymnasien aushöhlen.

Auch in Berlin gibt es nach wie vor eine Selektivität beim Zugang. Noch immer sind die Chancen von Kindern aus bildungsnahen Elternhäusern auch bei gleicher Leistung höher, einen entsprechenden Schulplatz zu bekommen. Wir wollen diese Selektivität abbauen. Deswegen ist es ein Kern der Schulstrukturreform, dass nach der Grundschule keine Aufteilung der Kinder mehr nach Abschluss und nach Lebensperspektive vorgenommen wird, weil alle weiterführenden Schulen zu allen Abschlüssen einschließlich zum Abitur führen.

[Beifall bei der Linksfraktion –


Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Was sind darüber hinaus die Hauptbefunde dieser Vergleichsstudie? Bei den Kompetenzen in Deutsch liegt der Berliner Durchschnitt zusammen mit dem der Stadtstaaten deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. Gleichzeitig ergibt sich ein erheblicher Abstand zwischen den besten und den schlechtesten Berliner Schülerinnen und Schülern. Während die besten Schüler durchaus auch bundesweit Spitzenwerte erreichen, fallen die schlechtesten deutlich ab. Im Fach Englisch liegt Berlin im Mittelfeld. Im Fach Französisch erreicht Berlin Spitzenwerte im Bundesvergleich. Das muss man auch einmal sagen.

Die Studie zeigt abermals, dass Berlin ähnlich wie andere Stadtstaaten vor besonderen Herausforderungen steht, angesichts einer starken Ballung sozialer Probleme und des hohen Anteils von Kindern mit Migrationshintergrund. Die Abhängigkeit des Kompetenzerwerbs von der sozialen Herkunft ist in Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern sehr groß. Wenn man sich das Abschneiden der Kinder mit Migrationshintergrund und ohne Migrationshintergrund ansieht, stellt man fest, dass gerade bei den Kompetenzen im Fach Deutsch Berliner Schüler ohne Migrationshintergrund nicht gegenüber Schülern ohne Migrationshintergrund im Bundesdurchschnitt abfallen.

Das zeigt, dass gerade Berlin mit dem höchsten und auch noch steigenden Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund vor Herausforderungen steht, die sich in anderen Bundesländern nur in sehr viel geringerem Maß stellen, wobei es hier sehr wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass wir gerade auch unter den Migranten Spitzenleistungen hervorbringen, aber eben auch die Risikogruppe besonders groß ist.

Das ist auch der Punkt, an dem man ansetzen muss, wenn es gilt, Schlussfolgerungen aus den Studien zu ziehen. Wir lernen aus der Studie. Erstens: Wir müssen die Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund verbessern, insbesondere die Sprachförderung, die für die vorschulische und frühkindliche Bildung in der Kita von besonderer Bedeutung ist. Hier hat die Koalition in den letzten Jahren wichtige Entscheidungen getroffen. Mit Bildungsprogrammen, Sprachlerntagebuch, mit Qualitätsvereinbarungen  und umfangreichen Fortbildungen wurde entscheidende Akzente gesetzt.

Deswegen haben wir verbindliche Sprachstandsfeststellungen mit Tests. Gleichzeitig haben wir durch den Rechtsanspruch, den wir ausgeweitet haben und durch einen schrittweise gebührenfreien Kitabesuch erreicht, dass in den letzten beiden Jahren vor der Schule nahezu alle Kinder in den Genuss der Förderung in der Kita kommen. Wir haben auch die Ausstattung in den Kitas erheblich verbessert, damit die Kitas den Qualitätsansprüchen, die wir an sie stellen, noch besser gerecht werden können.

Nun ist es immer so, dass Reformen Zeit brauchen, um Wirkung zu entfalten. Das gilt gerade im Bildungsbereich. Die jetzt getesteten Schüler kamen aber noch gar nicht in den Genuss der gerade genannten Reformen, sodass sie sich noch gar nicht in den Ergebnissen widerspiegeln können.

Zweitens zeigen die Ergebnisse, dass es darauf ankommt, schlechtere Startchancen von Kindern auszugleichen. Mit der Verbesserung der Kitaförderung, Ganztagsschulen, der Grundschulreform, Gemeinschaftsschule, der Abschaffung der Hauptschule und der Einführung der integrierten Sekundarschulen wurden wichtige Weichen gestellt, um genau das zu realisieren. Wir schaffen die Hauptschulen genau deswegen ab, weil wir wissen, dass die Kinder aufgrund der Ballung der sozialen Probleme dort eben nicht gut gefördert werden können. Das ist genau die Erkenntnis daraus, die wir ziehen und aus der wir die Schlussfolgerung ziehen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Deshalb sind die integrierten Sekundarschulen und die Gemeinschaftsschulen die richtige Antwort auf den Befund in dieser Studie.

Drittens zeigen die Ergebnisse, dass unabhängig von der Schulform die Schulen mit einer hohen Anzahl von Kindern aus bildungsfernen Familien – also Brennpunktschulen – vor einer sehr großen Herausforderungen stehen. Wir berücksichtigen dieses bereits bei der Ausstattung der Schulen. Wir müssen aber weiter darüber nachdenken, ob das reicht.

Viertens zeigen die Ergebnisse, dass der Qualitätsentwicklung an den Schulen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Der Bildungssenator hat hierfür ein Qualitätspaket angekündigt. Wir begrüßen das. Es kommt darauf an, faire Vergleiche ziehen zu können. Es kommt darauf an, den Lernzuwachs der Kinder in den Mittelpunkt der Vergleiche zu stellen. Vor allem aber geht es darum, Schulen dabei zu unterstützen, aus attestierten Stärken und Schwächen dann auch Schlussfolgerungen für ihre Entwicklung ziehen zu können und eine solche Entwicklung auch wirklich anzustoßen.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Befunde der Studie nicht neu sind. Sie zeigen bekannte Stärken und Schwächen im Berliner Bildungssystem. Weil die Erkenntnisse nicht neu sind, hat die Koalition in den vergangenen Jahren Konsequenzen mit besserer Sprachförderung, besserer Bildung in der Kita für mehr Kinder, mit Ganztagsschulen, der Schulstrukturreform und der Gemeinschaftsschule gezogen. Hier wurden mit erheblichem Aufwand Veränderungen im Interesse der Kinder in Gang gesetzt, die allerdings für die im Ländervergleich getesteten Schüler noch keine Wirkung entfalten können. Bei der Qualitätsentwicklung der Schulen müssen wir besser werden. Die Spitzenwerte bei der Bildungsgerechtigkeit dürfen wir dabei allerdings nicht aufs Spiel setzen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linksfraktion –
Vereinzelter Beifall bei der SPD]