Ende der Klassengesellschaft

Steffen Zillich

Schlussstrich unter eine Debatte über eine große Reform der Berliner Schule

16. Wahlperiode 57. Sitzung: Steffen Zillich zum Ende der Klassengesellschaft: Lernmittelfreiheit für alle Schülerinnen und Schüler – Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Berlin

 

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Mit den Gesetzen, die heute zur Abstimmung stehen, ziehen wir einen vorläufigen Schlussstrich unter eine Debatte über eine große Reform der Berliner Schule, die wohl größte Reform der Berliner Schule in den letzten 60 Jahren – im Ostteil der Stadt in den letzten 20 Jahren. Wir schaffen die integrierte Sekundarschule. Sie wird an die Stelle der Hauptschulen, der Realschulen und der Gesamtschulen treten, und sie verkörpert den nicht geringen Anspruch einer grundsätzlichen Veränderung des Selbstverständnisses von Schule.

Angesichts des Umfangs der Reform verlief die Debatte zuweilen recht kleinteilig. Sie war dominiert von Verfahrensfragen, und Haltungsnoten bekamen viel Aufmerksamkeit. Mir ist es wichtig, angesichts der Verabschiedung des heutigen Gesetzes den Kern, das Anliegen der Reform in den Mittelpunkt zu rücken und sie einzuordnen in die Perspektive der Berliner Schule.

Wir haben es seit PISA immer wieder in das Stammbuch geschrieben bekommen: Wir haben drei Hauptprobleme in der Schule der Bundesrepublik Deutschland: Wir haben schlechte Ergebnisse sowohl in der Spitze als auch im Durchschnitt und insbesondere bei denjenigen, die es besonders schwer haben. Wir haben zu wenig qualifizierte Abschlüsse. Zu viele Kinder verlassen die Schule ohne Abschluss, aber auch zu wenig Kinder bringen wir zu einem qualifizierten Abschluss – insbesondere zum Abitur. Und wir haben eine schreiende soziale Ungerechtigkeit in unserem Schulsystem. Über Bildungschancen entscheidet maßgeblich die soziale Herkunft bzw. der Geldbeutel der Eltern oder der Migrationshintergrund.

Neben der Frage, wie viele Ressourcen wir bereit und in der Lage sind, für die Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen zur Verfügung zu stellen, gibt es für diesen Befund drei Hauptursachen: Die erste Ursache ist, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland einen sehr großen Nachholbedarf im Bereich der frühkindlichen und der vorschulischen Bildung haben. Berlin ist dort gut aufgestellt. Wir sind mit den letzten Haushaltsberatungen hierbei noch einmal einen deutlichen Schritt vorangegangen.

Die zweite Ursache: Wir haben einen sehr großen Nachholbedarf im Bereich der ganztäglichen Bildung an den Schulen. Das ist nicht nur wichtig, um mehr Zeit für Bildung und Erziehung zu haben, sondern es ist auch wichtig für das Selbstverständnis von Schule, nämlich dass es nicht nur auf Bildung, auf Vermittlung von Kenntnissen ankommt, sondern auch auf Erziehung, auf Persönlichkeitsbildung. Auch hier gehen wir voran – im Verhältnis zu anderen Bundesländern.

Der dritte Grund ist, dass wir in Deutschland ein System der frühen Aufteilung von Kindern auf Lebens und Abschlussperspektiven mit einer Einteilung in Schubladen haben. Wir haben ein gegliedertes Schulsystem, und vor allem hier setzt die Reform an.

[Özcan Mutlu (Grüne): All das kennen wir, sagen Sie mal was Neues!]

Mit Verlaub: Das kommt eher zu spät als zu früh. Das wurde allzu lange tabuisiert. Der Reflex der für Bildung Zuständigen auf den PISASchock, nun über alles Mögliche zu reden – z. B. die Verkürzung der Abiturzeit, Vergleichsarbeiten und Ähnliches –, aber auf keinen Fall das Schubladensystem des gegliederten Schulsystems infrage zu stellen, war falsch und hat uns viel Zeit gekostet. Dabei ist der Befund der Wissenschaft und der internationalen Studien eindeutig: Die Aufteilung auf verschiedene Schulformen führt nicht zu besseren Leistungen – auch nicht in der Spitze –, und sie benachteiligt systematisch Kinder aus armen Familien und Kinder mit Migrationshintergrund.

[Beifall bei der Linksfraktion –

Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wir wollen das nicht hinnehmen. Deswegen schaffen wir die Hauptschulen ab. Endlich!

[Özcan Mutlu (Grüne): Ja, endlich!]

An den Hauptschulen zeigt sich am offensichtlichsten der Zusammenhang zwischen der Schulstruktur und den Bildungschancen. Die Berliner Hauptschulen sind hervorragend ausgestattet, sie haben ein engagiertes Kollegium, und dennoch haben die Kinder, die auf Hauptschulen geschickt werden, in der Regel keine Chance. Mehr Geld, mehr Personal, mehr Engagement können die Perspektivlosigkeit, die Erfahrung, aussortiert worden zu sein, und die Ballung an sozialen Problemen nicht ausgleichen. Hier muss die Struktur verändert werden.

Aber die alleinige Abschaffung der Hauptschule reicht nicht. Die Gefahr des Entstehens neuer Restschulen würde bestehen, und es gibt damit auch noch keine Antwort darauf, was an die Stelle der Hauptschulen treten soll. Deswegen ist der Kern der Reform, der Kern der Veränderung, die wir vornehmen, dass zukünftig alle weiterführenden Schulen, alle Schulen nach der Grundschule alle Abschlüsse bis hin zum Abitur anbieten.

Im Alter von 11 Jahren muss nicht mehr über die Lebensperspektive von Kindern entschieden werden.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Die Aufteilung – du wirst Akademikerin, du wirst Facharbeiter, du hast eigentlich keine Chance – wird es nicht mehr geben. Die Frage, was soll mein Kind später werden, auf welche Schule muss es also gehen, muss nicht mehr gestellt werden, weil alle Schulen alle Chancen für das weitere berufliche Leben geben.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Es wird nach der Grundschule zwei Schulformen geben: das Gymnasium, das vor allen Dingen auf Tempo setzt, mit wenig Zeit für individuelle Förderung, wo das Probejahr und das Sitzenbleiben drohen, und die integrierte Sekundarschule, die eine Ganztagsschule ist und zu den gleichen Abschlüssen führt, mit individuellem Lernen und Förderung im Mittelpunkt.

Die Strukturfrage ist eben für uns kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung, der Rahmen dafür, dass eine innere Veränderung der Schule stattfindet, für eine bessere Qualität, für ein besseres Lernen, für eine bessere Förderung der Kinder. Deswegen wird sich die integrierte Sekundarschule im Inneren verändern müssen. Sie muss und wird sich als eine Schule für alle verstehen, die sich von der Auslese verabschiedet. Sie wird eine Schule sowohl des gemeinsamen als auch des individuellen Lernens sein. Das ist der zentrale Punkt. Individuelle Förderung sowohl von Spitzenleistungen als auch der Kinder, die besondere Startschwierigkeiten haben, steht hier im Mittelpunkt. Es wird dort kein Sitzenbleiben mehr geben.

Es wird dort keine zwangsweise Aufteilung in Leistungsgruppen geben. Mit dem praktischen, mit dem Dualen Lernen werden dort andere Formen des Lernens angeboten werden. Sie wird deswegen eine Ganztagsschule sein, und sie wird deswegen nicht nur von Lehrerinnen und Lehrern bewältigt werden können, sondern es werden im Rahmen des Ganztagsbetriebes Sozialpädagogen, Erzieherinnen und Erzieher diese Aufgabe mit wahrnehmen müssen. Es geht um die innere Veränderung der Schule, und das ist der Unterschied zum Antrag der CDU.

Die CDU hat auch einen Vorschlag zur Änderung der Schulstruktur vorgelegt, aber am Kern, am Inhalt der Schule will sie festhalten. Sie will weiter der Fiktion homogener Lerngruppen nachjagen und damit das Grundprinzip der auslesenden Schule und auch das Grundhindernis für bessere individuelle Förderung weiterhin behalten. Wir halten das für falsch. Wir halten das für überholt und auch gar nicht erreichbar. Es gibt in der Praxis keine homogenen Lerngruppen. Das ist eine Fiktion. Wenn Sie sich das von uns nicht sagen lassen wollen, bringt Sie ja vielleicht Rita Süssmuth, die das sehr treffend beurteilt hat, zum Nachdenken. Prof. Rita Süssmuth hat gesagt:

Der Mythos hinter dem deutschen Ausleseprinzip heißt homogene Lerngruppe. Es herrscht immer noch die Annahme, dass man durch rechtzeitiges Sortieren der Schüler homogene Lerngruppen schaffe und es dadurch Einheitlichkeit im Klassenzimmer gebe. … Die Schule muss endlich verstehen, dass heterogene Lerngruppen mehr und besser lernen.

Genau das ist der Kern dessen, was wir wollen, und ich hoffe, auch Sie kommen auf diesen Trichter.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Eine Schule mit diesen Ansprüchen braucht eine verlässliche und gute Ausstattung. Genau das schaffen wir. Ich will es noch einmal sagen: 25 Kinder pro Lerngruppe als Grundausstattung, zusätzlich Ganztagsausstattung mit Sozialarbeitern und -pädagogen, zusätzlich Förder und Teilungsstunden, zusätzlich Mittel für Duales Lernen, zusätzlich Mittel für die Schulen mit einem besonders hohen Anteil von Kindern aus armen Familien und Familien mit Migrationshintergrund. Das ist eine verlässliche Ausstattung, und es war nicht einfach, das hinzubekommen.

Natürlich braucht eine so große Veränderung Unterstützung. Deswegen werden die Schulen nicht allein gelassen. Sie bekommen eine Schulentwicklungsberatung. Sie bekommen ein Fortbildungsbudget, sodass sie die Möglichkeit haben, die Fortbildung tatsächlich den Entwicklungserfordernissen ihre Schule anzupassen.

Natürlich befinden wir uns in einem Dilemma, was diese Schulreform betrifft: Wir wissen einerseits, dass die Probleme, die die Gliederung im Schulsystem mit sich bringt, nur komplett zu überwinden sind, wenn man eine Aufteilung von Kindern, wenn man die Gliederung des Schulsystems insgesamt überwindet.

Wir wissen gleichzeitig, dass eine Überwindung der kompletten Gliederung des Schulsystems derzeit weder eine politische noch eine gesellschaftliche Mehrheit hat. Wir müssen uns in diesem Rahmen bewegen, und die Art und Weise, wie wir uns darin bewegen, ist, dass wir das Ziel klar benennen. Die Koalition möchte zu einem Schulsystem kommen, das insgesamt auf Auslese verzichtet, und wir gehen einen Schritt nach dem anderen.

Deswegen ist es so wichtig, dass wir neben dieser Schulstrukturreform ein ganz wichtiges Berliner Element nicht über Bord werfen, sondern dort einordnen, und das sind die Berliner Gemeinschaftsschulen.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Die Schulen, die den direkten Weg des gemeinsamen Lernens von Klasse 1 bis zur Klasse 10 und bis hin zum Abitur gehen, haben – auch wenn gerade erst gestartet – bewiesen, dass sie anerkannt sind, eine große Veränderungsdynamik in sich haben, dass dort eine ganz große Veränderung, eine ganz ermutigende Entwicklung stattfindet. Diese Schulen werden mehr werden. Wir haben gesichert, dass sich weitere Schulen an dieser Pilotphase Gemeinschaftsschule beteiligen können.

Wir sehen, dass wir von den Schwierigkeiten, auch von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und den Widerständen her eine ganz ähnliche Situation haben, wie sie in Hamburg besteht. Es ist auch gar nicht verwunderlich, dass wir im Kern der Schulstrukturreform zu einer ähnlichen Lösung gefunden haben. Es gibt zwei maßgebliche Unterschiede, die ich benennen will.

Der eine Unterschied ist, dass wir nicht so rabiat gegen den Elternwillen vorgegangen sind, wie es Hamburg gemacht hat, und der zweite Unterschied ist, dass wir genau die Schulen, die weiter gehen, die weiter Motoren der Entwicklung sein wollen wie die Berliner Gemeinschaftsschulen, fördern und nicht enthaupten, wie es in Hamburg zum Teil mit den dortigen Reformschulen stattfindet. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil wir die Gemeinschaftsschulen als Motoren der weiteren Entwicklung brauchen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Natürlich ist eine solche Schulstrukturreform ein Kompromiss. Wie könnte es anders sein? Natürlich gibt es auch Punkte, die wir gern anders gesehen hätten, aber man muss sich einigen und eine stabile Grundlage finden, um so etwas auch im Grundsatz gemeinsam wegzutragen. Der Beifall von gesellschaftlichen Gruppen, von der GEW bis zur IHK, gibt uns recht, und auch die Wissenschaft attestiert uns, dass das ein richtiger Weg ist.

Insofern verstehe ich die Grünen an dieser Stelle nicht. Ich verstehe durchaus, dass man sagt: Wir wollen hier einen anderen Weg gehen, wir wollen da einen anderen Weg gehen. Wir haben an der einen oder anderen Stelle etwas zu kritisieren. – Natürlich kann man darüber reden, wie man mit dem Sitzenbleiben im Gymnasium umgeht, natürlich kann man darüber reden, ob eine andere Zugangsregelung vielleicht besser wäre.

Ich bin mir gar nicht sicher, ob Ihre besser gewesen wäre. Aber etwas anderes ist doch die Frage: Wie stelle ich mich insgesamt zu der Reform? Trage ich sie im Grundsatz mit – was Sie immer sagen – und weiß, dass es ein Kompromiss wird – oder sage ich: Wegen des Sitzenbleibens im Gymnasium und wegen einer Zugangsregel, die das Elternwahlrecht nach wie vor hochhält und dafür das Probejahr in Kauf nimmt, stimme ich der Reform insgesamt nicht zu.

[Özcan Mutlu (Grüne): Schau doch mal in dein

Programm mit Beschlüssen der Linken!]

Wenn man zu diesem Ergebnis kommt, liebe Grünen, dann muss man euch zumindest eines vorwerfen, nämlich dass ihr die Erfahrungen, die eure Parteifreunde in Hamburg gerade machen, bei der Begründung eurer Ablehnung nicht wirklich zur Kenntnis genommen habt.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Diese Schulreform ist ein wichtiger Schritt zu einem nicht auslesenden Schulsystem, zu einem Schulsystem, das Schülerinnen und Schüler nicht mehr nach vermeintlicher Eignung und Leistungsfähigkeit in vermeintlich leistungshomogene Gruppen sortiert. Dieser Schritt wird umso deutlicher ausfallen, je besser es uns gelingt, integrierte Sekundarschule und Gymnasium als gleichwertige Schulform zu begreifen. Wichtig für das Gelingen der Schulreform ist, dass die Schere des gegliederten Schulsystems im eigenen Kopf, die wir mehr oder weniger alle haben, überwunden wird.

Schülerinnen und Schüler werden künftig nicht mehr nach Leistungsfähigkeit zugeordnet. Es wird nicht mehr an eine Abschlussperspektive geknüpft. Das Stigma – du bist Hauptschüler – wird es nicht mehr geben. Die Förderprognose ist keine Empfehlung für den Abschluss mehr, sondern eine Empfehlung für die beste Förderung aufgrund der Leistungen, der Eignung, der Stärken, der Interessen des Kindes.

Eine solche wichtige und große Veränderung erfordert von uns, vom Abgeordnetenhaus, und vom Senat nicht nur die klare Entscheidung, die wir jetzt treffen, sondern auch eine Zusage, um den Mut und das Engagement zur Veränderung bei Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern tatsächlich zu behalten. Es erfordert die Verlässlichkeit, dass der Rahmen und die Ausstattung, die wir hier vereinbart haben, nicht infrage gestellt wird.

Ich sage das hier bewusst so deutlich: Das wird unsere Verantwortung und die Voraussetzung dafür sein, dass diese Reform gelingt, die ein Mehr an Gerechtigkeit, besseres Lernen mit besserer Förderung der Kinder und Jugendlichen zur Folge haben kann. Wenn uns das gelingt, dann sind wir auch in der Lage, das Versprechen, das wir mit dieser Gesetzesänderung machen, einzuhalten und damit einen sehr großen Schritt nach vorne zu gehen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]