Gegliedertes Schulsystem überwinden

Die Schulstrukturreform ist notwenig, um die Auslese nach sozialem Status und Migartionshintergrund zu überwinden.

52. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 16. Wahlperiode in der I. Lesung »Gesetz zur Einführung der integrierten Sekundarschule«

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der uns vorliegende Gesetzentwurf geht zurück auf einen Beschluss des Abgeordnetenhauses vom Juni, in dem der Senat beauftragt wurde, die rechtlichen Regelungen für eine Schulstrukturreform vorzuschlagen. Darin hat das Abgeordnetenhaus die inhaltlichen Eckpunkte für die Schulstrukturreform beschlossen. Diese bilden den Rahmen für den Gesetzentwurf und den Maßstab für seine Beurteilung.
Diese Schulstrukturreform geht die zentralen Probleme unseres Schulsystems an, die uns spätestens seit PISA immer wieder ins Stammbuch geschrieben werden: zu wenig Qualität, zu wenig Abschlüsse und Ungerechtigkeit. Diese Koalition will erreichen, dass kein Kind die Schule ohne Abschluss verlässt,

[Mieke Senftleben (FDP): Dafür habt ihr schon acht Jahre Zeit gehabt! Acht Jahre vertan!]

wir wollen, dass deutlich mehr Kinder qualifizierte Abschlüsse bis hin zum Abitur machen und wir wollen, dass der Zusammenhang zwischen dem Sozialen und dem Migrationshintergrund sowie den Bildungschancen eines Kindes überwunden wird.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Wir wissen, dass diese Ziele letztlich nur erreicht werden können, wenn wir die Gliederung im Schulsystem ganz überwinden und zu einer Schule kommen, die auf Auslese verzichtet, zu einer Schule, die dem Selbstverständnis der Berliner Gemeinschaftsschule entspricht. Das ist das Ziel bei der Entwicklung der Berliner Schule. Hier standen und stehen wir vor einem Dilemma. Ich habe es schon einmal gesagt, aber ich wiederhole es, weil Herr Steuer es nicht verstanden hat:

[Dr. Felicitas Tesch (SPD): Er wird es nie verstehen!]

Einerseits ist es in der Tat so, dass eine komplette Überwindung der Gliederung des Schulsystems und damit der Schulformen des gegliederten Schulsystems derzeit politisch und gesellschaftlich nicht die erforderliche Mehrheit hat, andererseits überwindet man die Probleme der Gliederung im Schulsystem nicht dadurch, dass man nur einen Teil der Gliederung aufgibt. Dieses Dilemma wird – das geht gar nicht anders – auch in den Details der Schulstrukturreform immer wieder sichtbar werden. Wie sind wir mit dem Dilemma umgegangen? Auflösen kann man es nicht, ignorieren hilft nicht. Wir definieren Ziele für diese Schulstrukturreform und wir gehen einen Schritt nach dem anderen ausgehend von den drängendsten Problemen. In diesem Sinne ist sich die Koalition darin einig, dass die Schulstrukturreform nicht den Endpunkt der Berliner Schulentwicklung darstellt, sondern nur ein Zwischenschritt sein kann.

[Mieke Senftleben (FDP): Ah ja! Gut, dass Sie es sagen!]

Der Kern der Reform ist, dass künftig alle weiterführenden Schulen alle Abschlüsse bis hin zum Abitur anbieten. Im Alter von elf Jahren muss nicht mehr über die Lebensperspektive von Kindern entschieden werden. Die Aufteilung: Du wirst Akademikerin, du wirst Facharbeiter und du hast eigentlich keine Chance wird es in der 6. Klasse nicht mehr geben. Die Frage: Was soll mein Kind später werden, auf welche Schule muss es gehen, stellt sich nicht mehr, stattdessen gibt es nach der Grundschule die Wahl zwischen zwei Sekundarschulen, dem Gymnasium einerseits, das auf Tempo setzt, wenig Zeit für individuelle Förderung lässt, wo Probejahr und Sitzenbleiben drohen und der integrierten Sekundarschule andererseits, die zu den gleichen Abschlüssen – noch einmal: zu gleichwertigen Abschlüssen, ein Zentralabitur sichert das –, und jeder, der etwas anderes behauptet, der sagt auch jetzt, dass diejenigen, die heute das Abitur in Berlin erwerben, das nicht am Gymnasium abgelegt ist, weniger wert ist. Das wird dem absolut nicht gerecht.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Diese Schule wird integrativ arbeiten. Sie soll eine neue Lernkultur verwirklichen, in der das individuelle Lernen von Kindern im Mittelpunkt steht, ohne Sitzenbleiben, ohne den Zwang, eine Gliederung im Schulsystem im Inneren zu reproduzieren und sie wird über Angebote des praktischen Lernens verfügen. Wir wollen sie vernünftig ausstatten: eine Klassenfrequenz von 25, zusätzlich Ausstattung für den Ganztagsbetrieb, zusätzliche Ausstattung für teilungs- und Förderstunden, zusätzliche Ausstattung für praktisches Lernen und zusätzlich bekommen die Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus armen Familien oder mit Migrationshintergrund extra Personal und Sachmittel.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Beifall von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]

Das ist ein Beitrag, um wirklich Chancengerechtigkeit zu erreichen. Herr Steuer! Sie müssen endlich das, was die Wissenschaft sagt, zur Kenntnis nehmen. Eine zentrale Aussage lautet: Das schlechteste, was Sie Kindern antun können, die es besonders schwer haben, sowohl zu Hause als auch in der Schule, ist, Lerngruppen aus ihnen zu bilden. Genau das beweist uns immer die Hauptschule. Deshalb ist der Weg, den Sie gehen, nicht der richtige.

Uns sind auch jene Schulen wichtig, die als Gemeinschaftsschulen den direkten Weg zu einer Schule ohne Auslese gehen wollen, in denen von Klasse 1 bis Klasse 10 beziehungsweise bis zum Abitur gemeinsam gelernt wird. Die Koalition will sie bedarfsgerecht ausbauen. Wo immer eine Schule, ein Bezirk oder Eltern es wollen, soll es rechtlich abgesichert neue Gemeinschaftsschulen geben. Wir verstehen diese Gemeinschaftsschulen als Motor dieser Reform.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Beifall von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]

Eine zentrale Bedingung, damit die integrierte Sekundarschule ein Erfolgsmodell im Sinne der Ziele der Reform werden kann, liegt in der Gleichwertigkeit von integrierter Sekundarschule und Gymnasium. Es geht hierbei nicht um Gleichartigkeit, im Gegenteil. Im Inhalt, im pädagogischen Konzept zielt die Reform ja gerade auf eine Veränderung der Lehr- und Lernkultur ab, gerade auch im Vergleich zum Gymnasium. Sie zielt darauf ab, dass der individuelle Lernprozess der Kinder im Mittelpunkt steht. Aber es geht um Gleichwertigkeit im Hinblick auf die angebotenen Abschlüsse, im Hinblick auf die Kompetenzen und Fähigkeiten, die dort erworben werden, es geht um Gleichwertigkeit im Hinblick auf die Stellung, die die Schulen im Schulsystem einnehmen. Hierfür ist eine wichtige Frage – darum kann man nicht herumreden –, wie entschieden wird, wer nach der Grundschule auf welche Schule kommt. Es geht darum, eine Lösung zu finden, die der gewollten Gleichwertigkeit der Schulen einerseits entspricht und andererseits den Unterschieden, die zwischen den Schularten bestehen, Rechnung trägt, und zwar so, dass sie mehr Chancengleichheit als bisher schafft und zur Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft beiträgt. Die Lösung, die der Gesetzentwurf vorschlägt, setzt erstens auf Beratung durch die Grundschulen, sie stärkt zweitens das Elternwahlrecht, indem die Eltern entscheiden, wo sie ihr Kind anmelden. Dort, wo es mehr Anmeldungen als Plätze an einer Schule gibt, wählen die Schulen drittens unter den Anmeldungen aus – nach Profil, aber auch nach Leistung. Das Los öffnet viertens ein Drittel der Plätze begehrter Schulen auch Kindern aus bildungsfernen Schichten und wirkt so einer weiteren sozialen Ausdifferenzierung entgegen.

Bei aller wohlfeilen Aufregung über das Losverfahren sollten wir so sachlich sein und zur Kenntnis nehmen, dass erstens bereits jetzt an Berliner Schulen nicht selten gelost wird, ohne dass es zu großer Aufregung kommt, dass zweitens in Bremen eine Losregelung beim Schulzugang vorgesehen ist, dass drittens das Losverfahren durchaus international – beispielsweise in den USA – eine bewährte Regelung ist und viertens das Losverfahren in der Wissenschaft durchaus akzeptiert wird und als gerechter als harte Leistungsselektion angesehen wird. Das im Gesetz vorgeschlagene Verfahren ist sicher besser als das, was sich in Hamburg abzeichnet, auch wenn dort noch keine genauen Vorstellungen bekannt gegeben werden. Die dortige Bildungssenatorin hat mir das kürzlich gesagt. Ein Wermutstropfen, der im Senatsvorschlag enthalten ist, ist der Umstand, dass am Gymnasium weiter ein Probejahr besteht. Unsere Position dazu ist bekannt, wir halten das für keine gute Idee.

Wir werden die Zugangsregelung sicher im Einzelnen noch genau diskutieren. Ich weiß, dass es andere Vorschläge gibt, die diskussionswürdig sind, ohne dass sie in der Lage wären, dem grundsätzlichen Dilemma abzuhelfen. Wir werden abwägen müssen, ob sie im Ergebnis den Zielen der Reform besser entsprechen als der Senatsvorschlag.

Die Schulgesetzänderung ist in der Tat zentral für die Reform. Deshalb werden wir sie in den Ausschüssen intensiv beraten. Wir werden Experten anhören, wir werden die bereits vorliegenden Stellungnahmen einbeziehen – die im Übrigen fast alle positiv sind –, wir werden vor allem prüfen, inwieweit der Gesetzentwurf den Vorgaben entspricht, die dieses Haus dem Senat gemacht hat. Aber wir wissen auch, dass über den Gesetzentwurf hinaus die Reform so vorbereitet werden muss, dass sie erfolgreich ist. Das betrifft die Ausstattung, die werden wir in den Haushaltsberatungen zu sichern haben, das betrifft die Unterstützung und Begleitung der Schulen in der Reform durch Information, Coaching und gezielte Fortbildungen. Auch die Bezirke als Schulträger tragen eine große Verantwortung bei der Vorbereitung dieser Reform. Deshalb ist es besonders wichtig, dass der Rat der Bürgermeister die Reform im Grundsatz einstimmig begrüßt hat. Bemerkenswert ist, dass er gefordert hat, die Reform möglichst schnell schon im Jahr 2010 für alle Schulen zu beginnen, um Blockaden zu verhindern. Dies ist deshalb so bemerkenswert, weil entsprechend der Befürchtungen des Rats der Bürgermeister drei Bezirke nunmehr angekündigt haben, bei der Reform auf Zeit zu spielen. Das deckt sich mit der Absicht der CDU, die Reform zu verschieben und die Debatte auf null zu stellen und von vorn beginnen zu lassen.

Debatten sind gut. Wer eine Debatte aber ernsthaft führen will, muss den Stand der Debatte zur Kenntnis nehmen. Der Stand lautet, dass eine breite politische Mehrheit diese Reform im Grundsatz will. Natürlich muss eine solche Reform gut vorbereitet werden. Der Vorbereitungsstand wird darüber entscheiden, wann was eingeführt werden kann. Wir als Abgeordnetenhaus sind gefordert, das unsere zu tun, da ist vor allem der Senat gefordert, aber auch die Bezirke. Wenn jetzt CDU-Stadträte in den Bezirken pauschal bremsen, dann muten sie mehr Kindern in ihren Bezirken weitere Hauptschulkarrieren zu anstatt die Zeit für die Vorbereitung der Reform zu nutzen und sie missbrauchen die Schulen und die Familien in ihren Bezirken als Faustpfand für ihre bildungspolitische Geisterfahrt.

Wir werden dieses Gesetz intensiv beraten. Wir werden unsere Hausaufgaben machen, damit die Reform im Sinne der Kinder ein Erfolg wird.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Beifall von Karl-Heinz Nolte (SPD)]