Zwei gleichwertige Schulen im Sekundarbereich

Die Sekundarschule wird alle möglichen Schulabschlüsse anbieten und auch im Abitur steht sie dem Gymnasium nicht nach.

 

 

49. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin in der 16. Wahlperiode in der Aktuellen Stunde zu »Gerechten Schulzugang sichern, Gymnasien reformieren und Sekundarschulen stark machen«, in Verbindung mit dem Dringlichen Antrag »Weiterentwicklung der Berliner Schulstruktur« und der I. Lesung »Ende der Klassengesellschaft: Lernmittelfreiheit für alle Schülerinnen und Schüler – Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für das Land Berlin«

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vorhin wurde gefragt: Was ist denn eigentlich das bildungspolitische Konzept der CDU? – Ich kann weiterhelfen. Letztlich sieht dieses Konzept vor, dass sämtliche integrativen Elemente im Berliner Schulsystem abgeschafft werden.

[Mieke Senftleben (FDP): Das ist frech!]

Das ist in der Tat nicht unser Weg.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Wenn man sich die Opposition anguckt – einerseits Herr Steuer, der in fast klassenkämpferischer Manier die Gliederung des Schulsystems und all ihre Elemente verteidigt, und andererseits Herr Mutlu, der das Probejahr kritisiert – darauf komme ich noch zu sprechen –, dann merkt man zumindest eins: Einig ist die Opposition in dieser Frage nicht.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD –
Volker Ratzmann (Grüne): Das stimmt! –
Mario Czaja (CDU): Darum geht es aber nicht!]

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Koalition legt an dieser Stelle ihr Konzept für die Schulreform vor.

[Mieke Senftleben (FDP): Endlich!]

Das hätte ich mir früher gewünscht, aber nun liegt es vor. Wir werden es heute keinesfalls beschließen,

[Mieke Senftleben (FDP): Das wäre ja noch schöner!]

sondern es wird in die parlamentarische Beratung gehen. Aber wir werden es schnell noch vor der Sommerpause beschließen.

Dieses Konzept ist ein Gesamtkonzept. Es besteht keinesfalls nur aus der Frage – wie in der Öffentlichkeit der Eindruck entstanden ist –, wie sich die Gymnasien eigentlich die Kinder aussuchen. Die Frage des Übergangs nach der Grundschule ist in der Tat ein wichtiger Teil dieses Konzepts und auch ein umstrittener. Aber er ist nur ein Teil. Dazu komme ich später noch.

Mit dieser Reform gehen wir, die Koalition, die zentralen Probleme unseres Schulsystems an, die uns seit PISA immer wieder ins Stammbuch geschrieben werden: zu schlechte Leistungen insgesamt, zu wenig qualifizierte Abschlüsse und eine eklatante soziale Ungerechtigkeit im Schulsystem. Deswegen formulieren wir Bildungsziele. Wir wollen, dass in Berlin im Ergebnis kein Kind die Schule ohne Abschluss verlässt, wir wollen, dass deutlich mehr Kinder das Abitur erreichen, und wir wollen, dass der Zusammenhang zwischen dem sozialen und dem Migrationshintergrund und den Bildungschancen eines Kindes überwunden wird.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD –
Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

Wir wissen – und nicht nur wir, sondern wir zusammen mit der EU, der OECD und der Mehrheit der Wissenschaft –, dass wir dieses Ziel letztlich nur erreichen können, wenn wir die Gliederung im Schulsystem überwinden,

[Mieke Senftleben (FDP): Einheitsschule!]

wenn wir zu einer Schule kommen, die auf Auslese verzichtet, zu einer Schule, die letztlich dem Selbstverständnis der Berliner Gemeinschaftsschule entspricht. Da wollen wir hin. Das ist das Ziel der Entwicklung für die Berliner Schule.

Aber wir standen und stehen hier vor einem Dilemma. Ich will das ganz offen ansprechen. Einerseits hat eine komplette Überwindung des Schulsystems und damit der Schulformen des gegliederten Schulsystems derzeit politisch und gesellschaftlich nicht die erforderliche Mehrheit – das wäre auch gar nicht im Schnellschuss umsetzbar –, andererseits überwindet man aber die Probleme der Gliederung des Schulsystems nicht dadurch, dass man nur einen Teil der Gliederung des Schulsystems überwindet. Hauptschule und Gymnasium sind zwei Seiten derselben Medaille, die Gliederung des Schulsystems heißt. Es ist schlicht unmöglich, eine Seite einer Medaille einzuschmelzen.

Dieses Dilemma wird – es geht gar nicht anders – auch in den Details der Schulreform immer wieder sichtbar werden. Wir sind mit dem Dilemma umgegangen. Auflösen kann man es nicht. Wie sind wir damit umgegangen? – Wir haben gesagt, wir gehen einen Schritt nach dem anderen, ausgehend von drängendsten Problemen.

Aber wir bieten nicht nur diesen schrittweisen Weg an, sondern wir stärken auch jene Schulen, die als Gemeinschaftsschulen den direkten Weg zu einer Schule ohne Auslese gehen wollen, in der von Klasse 1 bis Klasse 10 bzw. bis zum Abitur gemeinsam gelernt wird. Die Koalition will sie bedarfsgerecht ausbauen. Wo immer es eine Schule will, wo immer ein Bezirk es will, wo immer Eltern es wollen,

[Zuruf von Mieke Senftleben (FDP)]

da wird rechtlich für die Zukunft abgesichert, kann es neue Gemeinschaftsschulen geben.

Der Kern des Schrittes, über den wir heute reden, die wichtigste Aussage der Schulstrukturreform ist: Fürderhin wird es nicht nur die Stigmatisierung und die Perspektivlosigkeit der Hauptschulen nicht mehr geben, sondern es wird nach der Reform keine weiterführende Schule mehr in Berlin geben, die ihren Schülerinnen und Schülern nicht den Weg zum Abitur eröffnet. Alle weiterführenden Schulen bieten alle Schulabschlüsse an. Das bedeutet, dass nach der Grundschule nicht mehr die unmögliche, die oft genug diskriminierende Entscheidung getroffen werden muss, auf welche Lebensperspektive Kinder aufgeteilt werden.

Vizepräsident Dr. Uwe Lehmann-Brauns:

Herr Zillich! Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Mutlu?

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Nein! – Die Aufteilung im Alter von elf Jahren: Du wirst Akademikerin, du wirst Facharbeiter, und du hast eigentlich keine Chance – diese Aufteilung wird es nicht mehr geben müssen. Die Eltern stehen nicht mehr vor der Entscheidung: Was soll mein Kind später werden, auf welche Schule muss es also gehen? – sondern die Entscheidung heißt dann: Auf welche Sekundarschule soll mein Kind gehen, auf das Gymnasium, das bekanntlich auf Tempo setzt, wo aber wenig Zeit für individuelle Förderung besteht und wo Probejahr und Sitzenbleiben noch bestehen, oder auf die integrierte Sekundarschule, die zu allen Abschlüssen führt, zum gleichen Abitur, die Ganztagsbetrieb hat, wo individuelles Lernen und Förderung im Mittelpunkt stehen und die dafür auch ausgestattet ist?

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Die integrierte Sekundarschule und das Gymnasium werden in den Abschlüssen, im Niveau und auch im Anspruch, Kinder in heterogenen Lerngruppen zu den bestmöglichen Leistungen zu führen, gleichwertig sein. Die integrierte Sekundarschule wird integrativ arbeiten. Das bedeutet, sie wird eine neue Lehr- und Lernkultur verwirklichen, wo das individuelle Lernen der Kinder im Mittelpunkt steht. Es gibt kein Sitzenbleiben mehr, sie ist – wie jetzt die Gesamtschulen – nicht mehr verpflichtet, die Gliederung des Schulsystems im Inneren zu reproduzieren. Dort wird ganztägig gefördert. Praktisches bzw. duales Lernen ist ein neues Angebot.

Und wir werden diese Schule vernünftig ausstatten. Gegenüber den Gesamtschulen wird die Frequenz auf eine Berechnungsgröße von 25 Kindern je Klasse gesenkt. Zu­sätzlich wird der Ganztagsbetrieb mit Lehrern, Erziehern und Sozialarbeitern ausgestattet. Zusätzlich gibt es die Ausstattung für duales und praktisches Lernen. Zusätzlich gibt es Teilungs- und Förderstunden. Und zusätzlich werden Schulen in Brennpunkten besonders ausgestattet. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Wir statten Schulen je nach ihren Voraussetzungen unterschiedlich aus.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Schulen mit einem sehr hohen Anteil von Kindern aus armen Familien oder mit einem sehr hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bekommen gegenüber dem jetzigen Zustand die doppelte zusätzliche Ausstattung an Personalmitteln. Und sie bekommen darüber hinaus – auch das ist ein wichtiger Punkt – eine zusätzliche Sachmittelausstattung. Es ist ein Unterschied, ob El­tern an gutbürgerlichen Schulen einen Ausflug bezahlen können oder ob es an andren Schulen nicht möglich ist.

Die Debatte über den Übergang in die Sekundarstufe ist eine wichtige. Sie stellt sich im Übrigen nicht an den Gemeinschaftsschulen. Sie hat in den letzten Tagen eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Die Schwierigkeit besteht letztlich darin, eine Lösung zu finden, die der gewollten Gleichwertigkeit beider Schularten entspricht, die zudem den zwischen beiden Schularten bestehenden Unterschieden Rechnung trägt, und zwar so Rechnung trägt, dass sie mehr Chancengleichheit als bisher schafft und zur Entkoppelung des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft beiträgt.

Da stehen wir vor der Situation, dass es dafür keinen absolut guten Weg gibt, es gibt kein objektives Kriterium, die Kinder auf Schulen zu verteilen, außer aufgrund des Wohnorts oder durch Los. Wir haben eine Lösung gefunden, die auf Folgendes setzt: Erstens auf das Elternwahlrecht, Eltern sollen entscheiden, wo ihre Kinder angemeldet werden, zweitens auf Beratung, Schulen sollen beraten, was die Neigungen, die Stärken und die Schwächen sind und welche Schule wie besonders fördert. Wenn drittens Schulen mehr Anmeldungen erhalten als Plätze vorhanden sind, sollen sie auswählen können und zwar nach Profil, aber auch nach Leistung. Das Los öffnet begehrte Schulen auch für Kinder aus bildungsfernen Schichten. Es ist das Element, das einer weiteren Ausdifferenzierung zwischen Schulen und Schulformen entgegenwirkt. Wir werden uns genau ansehen, wie das wirkt. Deshalb werden wir wissenschaftlich überprüfen, wie diese Regelung auf die Ziele der Reform wirkt.

Nun zum Probejahr: Ja, das ist eine echte Kröte, die wir schlucken mussten. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

[Özcan Mutlu (Grüne): Wie viele Kröten wollen Sie denn noch schlucken?]

Die Kritik der GEW ist völlig richtig, es ist nichts, was die Gleichwertigkeit der Schulen befördert und ist auch nicht gut für die Kinder. Wir teilen diese Auffassung. Aber es ist ein Punkt, bei dem wir zur Kenntnis nehmen mussten, was an dieser Stelle mit der SPD geht und was nicht.

Über einen Bereich wird in dieser Debatte zu wenig gesprochen, nämlich über die Sonderschulen und die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Wir ignorieren sie nicht, sondern beauftragen den Senat ein Konzept darüber vorzulegen, wie Inklusion weiter vorangetrieben werden kann.

In der sehr gymnasiallastigen öffentlichen Debatte ist bisher das Werben für die Schulstrukturreform etwas zu kurz gekommen. Das wird nötig sein. Wir brauchen Reformen, wir brauchen Informationen, wir brauchen Überzeugung und Akzeptanz. Deshalb soll der Senat ein Leitbild vorlegen für die integrierte Sekundarschule, darüber öffentlich informieren und um Akzeptanz werben. Wir werden die Pädagoginnen und Pädagogen an den Schulen nicht allein lassen.

[Mieke Senftleben (FDP): Lasst sie lieber allein! Dabei kommt mehr heraus!]

Wir werden sie fortbilden, wir werden sie in ihrer Entwicklung unterstützen – und zwar mit auf die einzelne Schule zugeschnittenen Konzepten. Wir wissen aber, dass die Umsetzung durchaus noch eine große Herausforderung für uns alle sein wird.

Der Rahmen für die Schulstrukturreform steht. Bei aller wohlfeilen Häme der Opposition frage ich: Wer hätte sonst die politische Kraft aufgebracht, eine solche Einigung zu erzielen?

[Beifall bei der Linksfraktion –
Gelächter bei der FDP]

Jamaika wohl kaum.

Der Senat bekommt mit dem Antrag, den wir hier vorlegen, einen Umsetzungsauftrag. Er ist gefordert, dies vernünftig vorzubereiten. Wir werden mit dieser Reform zwei gleichwertige Schulen im Sekundarbereich bekommen. Damit entfällt ein ganz wichtiger Punkt der Selektion. Damit gehen wir einen großen Schritt in Richtung mehr Qualität und mehr Gerechtigkeit. Viele Elemente der Gemeinschaftsschule werden in die Fläche übertragen.

Vizepräsident Dr. Uwe Lehmann-Brauns:

Sind Sie beim Schlusssatz, Herr Kollege?

Steffen Zillich (Linksfraktion):

Ich bin beim Schlusssatz. – Wem dies mit zu vielen Umwegen und zu vielen Zwischenschritten verbunden ist, dem wird der Weg zu immer mehr Gemeinschaftsschulen offen stehen.

[Beifall bei der Linksfraktion –
Vereinzelter Beifall bei der SPD]