Öffentliche Nachfrage darf nicht durch Sparprogramme gekürzt werden
58. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin, 30. April 2020
Zu Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgesetzes 2020/2021 (Nachtragshaushaltsgesetz 2020 – NHG) (Priorität der Fraktion der SPD, der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen)
Steffen Zillich (LINKE):
Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Sehr geehrte Damen und Herren! Mit diesem Nachtragshaushalt stehen wir vor völlig anderen Herausforderungen als wir sie ahnen konnten, als vor wenigen Monaten der Doppelhaushalt beschlossen worden ist. Die eigentliche politische Frage, nicht nur für den Nachtragshaushalt, sondern für das Jahr insgesamt, ist die Frage, wie sich die Herausforderungen zu den Zielen verhalten, die hinter dem Doppelhaushalt gestanden haben, auf die wir uns als Koalition dort verständigt haben. Wie bewältigen wir das? Das ist zugegebenermaßen eine Debatte, bei der diejenigen, die die Ziele noch nie richtig gefunden haben, nicht wirklich gut mitreden können, aber zumindest in der Koalition müssen wir uns darüber verständigen.
Die Ziele lauten, dass wir natürlich eine neue Infrastruktur in der Stadt brauchen, dass wir Schulen sanieren und bauen müssen, dass wir eine Verkehrswende brauchen, dass wir den öffentlichen Dienst handlungsfähig machen wollen, ja, auch, dass wir rekommunalisieren wollen, dass wir einen sozial-ökologischen Umbau der Stadt wollen, dass wir eine für alle Bewohnerinnen und Bewohner leistbare Stadt wollen, wo niemand um seinen Platz fürchten muss. Die Probleme, die mit diesen Zielen adressiert werden, bestehen nach wie vor. Keines ist mit Corona verschwunden, vielleicht sind manche aus dem Blick geraten.
In jedem Fall gibt es mit Corona neue Notwendigkeiten. Die allerdringendsten werden mit dem Nachtragshaushalt adressiert: die notwendige Beschaffung von Schutzausrüstung und medizinischem Gerät, der Aufbau medizinischer Kapazitäten, Liquiditätshilfen für Landesunternehmen für wegbrechende Einnahmen, Hilfsprogramme für diejenigen, deren Existenz akut auf dem Spiel stand. Da war es richtig, und das ist bemerkenswert, dass Berlin nicht die Bundesprogramme abgewartet hat, sondern schnell und so reagiert hat, wie es für Berlin eben nötig ist.
Wir haben besonders viele kleine und Kleinstbetriebe, wir haben viele Soloselbständige, die Hilfe brauchen, natürlich auch zum Leben und nicht nur für die Betriebsausgaben.
Wir haben Kulturbetriebe, wir haben Künstlerinnen und Künstler sowie Menschen, die im Tourismus, Service und in der Gastronomie tätig sind, und deswegen musste hier ein besonderer Schwerpunkt gesetzt werden. Die Schnelligkeit und Entschiedenheit, mit der reagiert worden ist, hat viele überrascht. Ich will mich bei allen bedanken, die das ermöglicht haben. Wenn darüber das eine oder andere Vorurteil einen Kratzer bekommen hat und der eine oder andere hämische Kommentar angesichts überlasteter Server am ersten Tag im Halse stecken geblieben ist, macht mich das nicht traurig.
Wir werden sicher über das eine oder andere im Einzelnen zu diskutieren haben. Wir müssen natürlich gucken, wie die einzelnen Förderprogramme miteinander abgestimmt sind, welche Rolle und welche Spielräume die Bundesprogramme noch spielen bzw. bieten. Wir werden, es ist angesprochen worden, über die Frage reden müssen, wie wir mit außerplanmäßigen und überplanmäßigen Ausgaben umgehen wollen. Was hier nun aber vorliegt, ist sicherlich etwas, was wir finanzieren werden, ohne dass es uns ins Wanken bringt. Es wird nicht die allergrößte Herausforderung in diesem Jahr sein; die kommen noch. Wir werden sehen, in welcher formalen Form wir sie zu bewältigen haben.
Corona- und lockdownbedingt werden wir in diesem und im nächsten Jahr gigantische Steuerausfälle haben. Die Steuereinnahmen werden einbrechen. Wie kann das anders sein in einer Zeit, in der in vielen Bereichen die Wertschöpfung weitgehend auf Null gefahren ist? Wir werden dazu in den nächsten Wochen eine amtliche Prognose erhalten; es werden Milliardenbeträge sein. Was immer aber auch das Ergebnis dieser Prognose sein wird, es wird ein sehr vorläufiges sein, zumal für 2021.
Wir haben weitere Herausforderungen, die ich benennen will: Wir werden die Wertschöpfung, die wirtschaftliche Entwicklung natürlich wieder ankurbeln müssen, und hier liegt eine besondere Herausforderung beim Bund. Wir wissen aber um die Besonderheiten Berlins und ahnen, dass nicht jedes Konjunkturprogramm des Bundes, das etwa die Auto- oder Werftindustrie adressiert, uns in Berlin hilft. Wir brauchen deshalb eigene Mittel, um Bundesprogramme nicht nur kozufinanzieren, sondern zu ergänzen und um genau die Dinge unterstützen zu können, die Herr Goiny zu Recht angesprochen hat, die die Stadt attraktiv machen und auch den wirtschaftlichen Motor ausmachen.
Wir werden auch weiterhin über die Fortführung und Ergänzung von Hilfsprogrammen reden müssen. Dabei geht es einerseits darum, ggf. Lücken zu schließen, wir müssen andererseits aber auch über die Fortführung von Hilfsprogrammen reden. Wir müssen genau prüfen, wo Betriebe oder Institutionen mithilfe der Programme zwar noch leben, aufgrund des Andauerndes von Beschränkungen ohne weitere Programme aber nicht überleben können. Wir müssen verhindern, dass Strukturen, die wir in der Stadt brauchen, einfach wegbrechen.
Es geht auch um die Begleitung und die Bewältigung von Krisenfolgen. Das betrifft z. B. die notwendige Unterstützung von Kindern und Jugendlichen beim Lernen unter Coronabedingungen: Wo brauchen wir dort eine zusätzliche Unterstützung? – Wir wissen, dass auch diese Krise die Schwachen besonders stark trifft. Deshalb lehnen wir es im Übrigen auch ab, coronabedingt Sozialstandards zu senken. Wenn es aber so ist, dass zum Beispiel in den Unterbringungen für Obdachlose die Infektionsstandards nicht gewährleistet werden können, müssen wir über andere Möglichkeiten reden, auch über Hotels.
Kein Haushalt der Welt kann solche Herausforderungen „wegatmen“, kein Sparprogramm der Welt kann sie finanzieren. Wir werden deshalb den Weg der Kreditaufnahme gehen müssen. Wir befinden uns in einer Notlage, und selbst die Schuldenbremse, die wir bekanntlich sehr kritisch sehen, sieht hierfür die Möglichkeit der Neuverschuldung vor. Wir halten es für falsch, in dieser Situation die öffentliche Nachfrage durch Sparprogramme weiter zu kürzen oder dadurch Unsicherheit zu verbreiten. Wir wollen eher die Sicherheit schaffen, dass wir jetzt darauf verzichten, zumal der finanzielle Beitrag ohnehin nur ein untergeordneter sein könnte. Das schließt Sparsamkeit natürlich nicht aus, und das heißt vor allen Dingen nicht, dass Mittel, die coronabedingt nicht ausgegeben, nicht eingesammelt werden können. Ich glaube, das ist auch der Weg, wie wir mit den Bezirken verfahren müssen. Das bedeutet aber auch, dass wir aufpassen müssen, dass wir nicht die Investitionsfähigkeit und die Investitionsentscheidungen für Dinge zurückdrehen, die wir in der Stadt brauchen.
Wir halten beim Thema Investitionen auch die Umwidmung von Investitionsmitteln in Konjunkturprogramme nicht für den richtigen Weg, ganz einfach deshalb, weil dadurch der konjunkturelle Effekt dieser Programme infrage gestellt wird.
Für uns ist deshalb klar: Wir werden die Coronaherausforderungen durch zusätzliche Kreditaufnahmen finanzieren müssen. Das ist bitter, im Übrigen gerade für diejenigen, die die politische Dresche für die Konsolidierung der Vergangenheit bezogen haben, aber es ist notwendig. Der Weg in die Neuverschuldung kann natürlich nur ein vorübergehender, notfallbedingter sein, aber er wird sich sicherlich nicht in ein paar Monaten erledigt haben. Das bedeutet am Ende, davon bin ich überzeugt, dass wir auch in dieser Zeit unsere bisherigen politischen Ziele nicht einfach beiseiteschieben dürfen. Sicher wird nicht alles gleichzeitig gehen, aber wir sollten das, was wir für die Stadt als nötig und richtig erkannt haben, nicht einfach beiseiteschieben.